Grundstein
Juni 2021
Lippengrind
Ein Erfahrungsbericht
Wie die Öttis vier Wochen mit Lippengrind, Leinsamen, Wintereinbruch und Wattetupfer verbrachten.
Was ist Lippengrind?
Lippengrind ist eine besonders fiese Erkrankung bei Meerschweinchen, weil die schorfigen Entzündungen an den Flauschelippen zum einen schmerzhaft sind und zum anderen auch die entzückende Schweinenasenoptik ungünstig verändern. Vermutlich interessiert sich ein von Lippengrind betroffenes Schweinchen wenig für seine Nasenoptik. Aber dass Berührungen an den Lippen unangenehm sind, ist daran zu erkennen, dass bei Lippengrind nur zögerlich gefuttert wird und saure Lebensmittel gemieden werden. Je saurer ein Obst- oder Gemüsestückchen ist, umso mehr brennt der Kontakt vermutlich an der geschundenen Schweinelippe.
Was löst Lippengrind aus?
Über die Ursachen von Lippengrind gibt es bislang keine eindeutig gesicherten Erkenntnisse, aber zahlreiche Vermutungen. Lange Zeit nahm man an, Lippengrind sei eine direkte Folge von Vitaminmangel, ähnlich wie Skorbut beim Menschen. Heute wird darüber hinaus ein Zusammenhang mit einem Mangel an bestimmten Fettsäuren vermutet. Auch eine Fütterung von stark säurehaltigen Obst- und Gemüsesorten soll die Entstehung von Lippengrind begünstigen. Letztlich wird auch Stress immer wieder als mögliche Ursache genannt.
Da die Öttis über das ganze Jahr eine ähnliche vitaminreiche Versorgung mit Rohkost genießen und genügend Fettsäuren in Form von Sonnenblumenkernen wegknuspern, hatten wir glücklicherweise nie Erfahrungen mit Lippengrind. In einer Zeit allerdings, in der es in der Öttigruppe zu zahlreichen Krankheitsfällen und schnellen personellen Veränderungen kam, zeigte sich bei Chrissy und Lotti plötzlich eine kleine schorfige Stelle auf den Oberlippen.
Da die Futterversorgung die gleiche wie immer war und sich auch der Säuregehalt der Gemüsemischung nicht verändert hatte, kam in diesem Fall eindeutig der dauerhaft erhöhte Stresspegel als Auslöser für den Lippengrind in Frage. Immerhin hatten Chrissy und Lotti in den vorigen Wochen mehrere Vergesellschaftungen mitgemacht und hatten sich dann auch noch derart heftig zerstritten, dass sie kurzfristig getrennt werden mussten. Es dürften also eine Menge Stresshormone im Spiel gewesen sein.
Was sind erste Anzeichen von Lippengrind?
Schon ein paar Tage bevor an den Lippen sichtbare Veränderungen auftraten, ließen Chrissy und Lotti Paprika- und Apfelstückchen links liegen. Auch anderes Futter wurde häufig nur zögerlich angerührt. Als wir uns schon fragten, was ihnen plötzlich den Appetit verdorben hatte, sah man dann auch bald bei beiden eine kleine schorfige Stelle auf bzw. zwischen den beiden Oberlippen. Die Haut war gerötet und es bildeten sich unschöne Borken auf den Schweinelippchen.
Erste-Hilfe-Maßnahmen bei Lippengrind
Meerschweinchen besitzen die erstaunliche Gabe, pünktlich zum Feierabendzeitpunkt der Tierarztpraxis zu erkranken. So war es auch in diesem Fall und wir mussten vor einem möglichen Arzttermin erst mal das Wochenende abwarten. Schließlich gab es im Internet genügend Infos zu Lippengrind und akute Lebensgefahr bestand anscheinend nicht. Also wurde als Sofortmaßnahme mehrfach täglich eine Wund- und Heilsalbe (Bepanthen) mit einem Wattestäbchen auf die wunden Lippen aufgetupft und zusätzlich geschroteter Leinsamen gereicht.
Der vereinbarte Tierarzttermin am Montag konnte dann leider nicht wahrgenommen werden, da über Nacht ein halber Meter Neuschnee gefallen war und weder Chrissy noch Lotti über ein Fahrzeug mit Schneeketten oder Pflug verfügten.
"Hast du Schneeketten?" - "Nee. Du?" - "Nöö."
Tierarztbesuch bei Lippengrind
Weil Cremen und Tupfen nach mehreren Tagen noch keinen sichtbaren Erfolg gebracht hatte, nahmen wir nach Räumung der Straßen einen Tierarzttermin am Ende der Woche wahr. Da Lotti auf keinen Fall bei -10 Grad zur Tierärztin fahren wollte, aktivierte sie flott ihre Selbstheilungskräfte und präsentierte am Abend eine nahezu grindfreie Schweinelippe (bzw. drei Stück), sodass grummelnderweise Chrissy die Fahrt zum Tierarzt antreten musste. Es wurde ein Abstrich von der Schweinelippe genommen, der ein 80 Euro großes Loch in der Krankenversicherungskasse hinterließ und es wurde weiterhin mehrfach täglich Heilsalbe aufgetupft.
Umstellung des Speiseplans bei Lippengrind
Weil die grindgeplagten Schweineschwestern Paprika und Apfel ohnehin liegenließen und die enthaltene Säure eher ungünstig auf Lippengrind wirken soll, wurden beide Sorten kurzerhand komplett vom Speiseplan gestrichen. Stattdessen gab es besonders viel Fenchel, der viel Vitamin C enthält. Schließlich ist eine gute Vitaminversorgung vor allem bei grindgeplagten Schweinchen wichtig.
Außerdem gab es zusätzlich Wirsing, der sich im Nachhinein zwar gar nicht als so Vitamin-C-haltig erwies wie ursprünglich angenommen, aber zumindest lecker war und eine gelungene Abwechslung auf dem Schweinespeiseplan darstellte. Scheinbar brennt Wirsing nicht an Lippengrindlippen. Für Schweinchen ohne Wirsingvorerfahrung sei aber noch erwähnt, dass Wirsing Blähungen hervorrufen kann und daher nur in kleinen Mengen gefüttert werden sollte (also nicht den Hauptbestandteil einer Mahlzeit ausmachen sollte) und vorher schrittweise in kleinen Mengen angefüttert werden muss!
So tupften und cremten und zappelten und wehrten sich Chrissy und Lotti auch durch das nächste Wochenende und verteilten zwischenzeitlich Creme in diversen Zweibeinpullovern, an Handgelenken, Häuschen, Hängematten und oft genug auch an Eddie.
Zwischenzeitlich trudelte auch das Abstrichergebnis aus dem Labor ein. Befund: bakterieller Befall. Für den Fall, dass der Grind nicht verschwinden sollte, erhielten wir die Option, eine antibiotische Augensalbe zu bekommen. Inzwischen war allerdings eine deutliche Besserung zu sehen, sodass wir darauf erst mal verzichteten.
Erste Erfolge
Nach ca. 10 Tagen fleißigen Eincremens waren Lottis Lippen wieder in einem einwandfreien superflauschigen Zustand und auch an Chrissys Lippe war nur noch ein winziges Pünktchen zu sehen. Weil beide für das Eincremen am 10. Tag immer noch genauso wenig Begeisterung aufbringen konnten wie am ersten Tag, verzichteten wir schließlich darauf. Der Gedanke war, dass ständiges Einfangen und Betupfen auch Stress bedeutet und der Heilung eher entgegen wirkt. Da nur noch kleine Grindreste zu sehen waren, entschieden wir uns, Chrissy erst mal mit dem Wattetupfer in Ruhe zu lassen, um auch in ihr die Schweineselbstheilungskräfte zu aktivieren.
Der Rückfall
Leider hatten wir die Rechnung ohne die Lippengrindwirtin gemacht, denn nach wenigen Tagen ohne Eincremen waren auf einmal wieder fette Borken auf Chrissys Lippen zu sehen. Na super… Dass gerade wieder der letzte Feierabendtermin der Tierarztpraxis rum war und das Wochenende vor der Tür stand, braucht an dieser Stelle wohl nicht erwähnt werden.
Also machte Chrissy auf ein Neues zweimal täglich mit dem Wattestäbchen mit Heilsalbe Bekanntschaft. Leinsamen und besonders vitamin-C-haltiges Futter wie Petersilie und Brokkoli gab es natürlich weiterhin zusätzlich jeden Tag.
Zum Glück war dieser Rückfall nur von kurzer Dauer und nach einer weiteren Woche regelmäßigen Cremen und Tupfens waren auch Chrissys Lippen wieder borkenfrei und schweinerosa. Etwa eine Woche nach den letzten Lippengrindanzeichen trauten wir uns auch langsam wieder Paprika – zunächst in kleinen Mengen – auf den Speiseplan zu setzen. Schließlich liefert diese besonders viel Vitamin C. Chrissy wurde noch eine ganze Weile regelmäßig kritisch beäugt und als nach insgesamt vier Wochen Getupfe und Gezapple die Schweinelippen wieder flauschig-rosa waren, machten wir alle ein dickes Kreuz im Kalender, dass dieses Kapitel abgeschlossen war.
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