Grundstein
September 2013
Fressgewohnheiten
...was Meerschweinchen als Esskultur bezeichnen...
Meerschweinchen haben ihre ganz eigenen Gewohnheiten, was das Fressen angeht. Nicht alle Meerschweinchen sind gleich. Es gibt verfressene Meerschweinchen. Es gibt total verfressene Meerschweinchen. Und dann gibt es noch die ganz und gar und absolut unglaublich verfressenen Meerschweinchen. Eins haben sie alle gemeinsam: Sie fressen für ihr Leben gerne!
Auch wenn dies den Anschein erwecken mag, Meerschweinchen seien nicht mehr als kleine Fressmaschinen, so haben sie doch ihre festen Grundsätze, wenns um ihre Lieblingsbeschäftigung – das Futtern, Mampfen, Wegschmatzen oder einfach nur Fressen – geht:
Lieber zweihundert kleine Mahlzeiten, als eine große!
Ähnlich wie die Weight-Watcher-geplagte Tante Hilde, die niiiiieee im Leben ein ganzes, mächtiges Stück Sahnetorte essen würde (die dann aber im Laufe des Nachmittags ein halbes Mandelhörnchen und einen halben Amerikaner und ein klitzekleines Stückchen Apfelkuchen und noch so ein winziges Baiser und noch einen kleine Ecke von dem Marzipanstollen und ein Pralinchen und so ein süßes kleines Puddingteilchen und einen Miniwindbeutel verdrückt), futtern auch die Öttis lieber unendlich viele winzige Portionen über den Tag verteilt, als wenige große Hauptmahlzeiten. Zumindest entspricht dies dem natürlichen Fressverhalten wilder Meerschweinchen.
In freier Wildbahn finden Meerschweinchen üblicherweise nicht ein Pfund Gemüse auf einmal, sondern sie suchen und erarbeiten sich jedes Hälmchen und Blättchen und kommen so auf weit über hundert Kleinstmahlzeiten am Tag. Auch das Verdauungssystem der Meerschweinchen ist für diese Dauerbefüllung mit Minimengen optimiert. Daher wäre es auch für Hausmeerschweinchen optimal, wenn sie möglichst viele kleine Mahlzeiten über den gesamten Tag verteilt bekommen und so alle paar Minuten ein paar kleine Bissen zu sich nehmen können.
Die meisten Schweinehalter werden jedoch neben der Schweinefütterung im Alltag noch ein, zwei weitere kleine Aufgaben zu erledigen haben und können daher meist nicht im 10-Minuten-Takt der Schweinebande einzelne Löwenzahnblätter vorbeibringen. Unsere Öttis müssen an Wochentagen sogar mit nur zwei Fütterungen pro Tag auskommen! (Mitleidsbekundungen nehmen die Öttis gerne an…). Offensichtlichen Schaden haben sie bisher nicht davongetragen, aber man merkt ihnen nach der großen Abendfütterung schon häufig an, dass sie von den großen Portionen richtig träge werden und sich längere Zeit zum Verdauen zurückziehen müssen. Denn eigentlich könnten die Öttis ja die große Gemüseportion einfach selbst in zweihundert kleine aufteilen und einfach nur alle 10 Minuten einen kleinen Bissen zu sich nehmen. Das funktioniert allerdings nicht, weil dieses Verhalten mit dem zweiten Glaubenssatz der Öttis kollidieren würde:
So viel wie möglich so schnell wie möglich!
Eine eingebaute Fressbremse haben Öttis leider nicht. Wenn es ihnen schmeckt, fressen sie sich maßlos voll – fast bis zum Platzen. Besonders heiß begehrtes Futter führt in großen Mengen zu regelrechten Fressorgien, die damit enden, dass alle kugelrund gefressen bewegungslos in der Ecke herumliegen und sich kaum noch bewegen (können), bis ein riesiger Bohnenhaufen abgeworfen wurde.
Daher muss der Schweinehalter bei der Fütterung immer ein bisschen für seine Schweinchen mitdenken – auch wenn die Öttis selbst dieses Verhalten als künstliche Verknappung, Unverschämtheit oder Majestätsbeleidigung bezeichnen würden.... Denn insbesondere stark wasserhaltiges Frischfutter sollte nicht in zu großen Mengen angeboten werden, insbesondere dann, wenn die Schweinchen dieses Futter nur gelegentlich bekommen und die Verdauung noch nicht so daran gewöhnt ist. Denn nichts hindert sie daran, eine halbe Gurke oder ein Kilo frisches Gras (oder beides) auf einmal zu fressen – und relativ häufig endet dies mit Matschköddeln.
Auch aus Erfahrung lernen Meerschweinchen erfahrungsgemäß nicht viel. Im Gegensatz zu Ratten, denen ja nachgesagt wird, aus Fresserfahrungen zu lernen, werden Meerschweinchen identische Fressfehler immer wieder begehen. Niemand vermag zu urteilen, ob das nun an mangelnder Lernfähigkeit oder dem geringen Maß an Selbstbeherrschung beim Anblick köstlichen Futters liegt - oder an dem unerschütterlichen Glauben, dass beim nächsten mal alles besser laufen wird.
Fakt ist jedoch: Meerschweinchen fressen immer wieder mehr, als ihnen bekommt, wenn die Möglichkeit dazu besteht. Das gleiche gilt auch für Trockenfutter, das ohnehin leicht die Schweineverdauung durcheinander bringen kann – vor allem natürlich, wenn ungesunde Inhaltsstoffe darin sind, denn Glaubenssatz Nr. 3 lautet:
Gefressen wird, was schmeckt!
Auch wenn Tieren häufig ein „Instinkt für das Richtige“ zugesprochen wird, haben doch auch Meerschweinchen der Nahrungsmittelindustrie nichts entgegenzusetzen. Hersteller von Tierfutter wissen, dass oft der Geschmack des Vierbeiners über das Kaufverhalten des Zweibeiners entscheidet. Wenn das Schweinchen die gepressten Kekse in Elefantenform am liebsten futtert, werden sie auch in der nächsten Woche wieder im Einkaufswagen landen. Man sollte sich dabei bewusst machen, dass die Industrie - beim Menschen- wie auch beim Tierfutter - mit allen „Tricks“ arbeitet, um ihre Kreationen schmackhaft zu machen. Wir wissen dass Frühstückscerealien reine Zuckerbomben sind und mit einem gesunden Frühstück so viel zu tun haben, wie alte Tennissocken mit Weihnachtsduft. Trotzdem essen wir sie immer wieder, weil Zucker genauso süchtig macht wie Heroin. Und Zuckerjunkies sind ohne ihre Frühstückscerealien am Morgen nur noch zitternde Wracks, die an nichts anderes denken können, als an den nächsten Schuss.
Auch Meerschweinchen mögen Zucker. Und Getreide. Und vermutlich auch Honig und Joghurt und pflanzliche Resterzeugnisse aus der Industrie. Oder die Lebensmittelchemiker schaffen es irgendwie, ihnen diese Zutaten schmackhaft zu machen. Jedenfalls fressen Meerschweinchen genauso ungesunde Sachen wie wir, wenn man sie lässt. Immer wieder hört man das Argument „Ich ess ja auch mal Schokolade, also gönne ich meinen Schweinchen auch Elefantenkekse – auch wenn sie ungesund sind.“ Die Logik hinkt insofern ein wenig, als ein Meerschweinchen nicht weiß, dass dieses Futter ungesund ist. Wenn es wüsste, dass es von bestimmten Dingen Durchfall oder Blähungen bekommt oder schlimmstenfalls die gesamte Darmflora schädigt und somit zukünftig anfälliger für verschiedene Verdauungsstörungen wird und damit wiederum Tierarztbesuche, die Einnahme von Medikamenten und jede Menge Stress verbunden sind – würde es dann immer noch die gepressten Elefantenkekse essen? Bei genauerer Betrachtung muss man sagen….Vermutlich ja…
Meerschweinchen sind Genusstiere und leben im Hier und Jetzt und kennen Zukunftsängste kaum.
Aus Sicht des Zweibeins kann man seinen Meerschweinchen allerdings viel Ärger und Stress ersparen, wenn man auf eine möglichst gesunde Ernährung der kleinen Pelzkartoffeln achtet, denn im Gegensatz zum Menschen können Verdauungsprobleme bei Meerschweinchen schnell zu lebensbedrohlichen Problemen führen. Und schließlich kann man die kleinen Gourmets auch mit gesundem Essen kulinarische Höhenflüge erleben lassen. Frischer Löwenzahn, Petersilie, Kleeblüten und Co schmecken mindestens genauso gut wie Fertigfutter (eigentlich sogar viel, viel besser!) und sind obendrein auch noch gesund!
Und solche Köstlichkeiten nehmen bei der Fütterung einen besonderen Stellenwert ein, denn:
Das Leckerste zuerst!
Meerschweinchen sind kleine Gourmets und picken sich mit Vorliebe nur das Allerbeste und Allerschmatzigste heraus. Bietet man verschiedene Gemüse- oder Kräutersorten auf einmal an, so zeigen Meerschweinchen auf einmal erstaunliche Weitsicht, indem sie sich nicht mit der erstbesten Möhre voll stopfen, um dann später (wegen der Gefahr des Platzens) auf köstliche Mairübenblätter verzichten zu müssen. Stattdessen laufen sie das Terrain zunächst einmal ab und sondieren die Lage. Im Kopf wird ein Lageplan der Köstlichkeiten erstellt und dieser dann konsequent in absteigender Schmatzigkeits-Rangfolge abgearbeitet.
Auffällig bei dieser Schmatzigkeits-Rangfolge ist, dass meist die weniger gehaltvollen Futtersorten (wie zum Beispiel Kräuter, Salat und Gurke) bei den meisten Öttis weit vorne liegen, während die mächtigeren Gemüsesorten wie Möhren und Co deutlich schlechter abschneiden. Ob dies die Ötti-Variante von "Käse schließt den Magen" darstellt? Nur eben mit Möhre?
Fakt ist, wenn zuerst die Petersilienblättchen alle weggeschmatzt wurden und auch die Mairübchenblätter alle vernichtet sind, kommt die Gurke dran und dann die rote Paprika. Wer dann immer noch Hunger hat (oder nicht schnell genug war), muss sich mit gelber Paprika begnügen oder letztlich auf olle Möhre zurückgreifen. Meist bleibt diese jedoch für spätere Zwischenmahlzeiten liegen und wird erst angeknabbert, wenn die Köstlichkeiten schon längst in Bohnenform wieder im Gehege abgelegt wurden und der Öttimagen Nachschub verlangt, ohne dass ein Zweibein das Lager der Schmatzigkeiten erneut aufgefüllt hat.
Die Schmatzigkeits-Rangfolge der Öttis kann man allerdings recht wirkungsvoll manipulieren und somit auch weniger begehrte Futtermittel in der Rangfolge nach oben steigen lassen, denn:
Schwer Erreichbares ist plötzlich viel interessanter und leckerer!
Während herumliegende Möhren nur dann gefressen werden, wenn sonst nichts mehr zu ergattern ist, werden sie plötzlich begehrenswerter, wenn sie nicht einfach in der Gegend herumliegen, sondern wenn Schwein sich anstrengen muss, um die Möhre fressen zu können. Ist die Möhre in einer Weidenbrücke fest eingeklemmt, sodass man sich strecken muss, um sie zu erreichen und jeder Bissen mühsam aus dem widerspenstigen Teil herausgerissen werden muss, schmecken sie dafür umso besser.
Erklären lässt sich dieses scheinbar unlogische Verhalten mit der Theorie der kognitiven Dissonanz von Festinger. Demnach fällt eine Bewertung für etwas umso positiver aus, je mehr man sich dafür angestrengt hat. Das liegt daran, dass sich niemand eingestehen möchte, dass er unsinnig handelt. Wenn Möhren blöd sind, strengt man sich natürlich nicht dafür an. Wenn man aber von einer eingeklemmten Möhre plötzlich bei der Ehre gepackt wurde und man sich wie irre angestrengt hat, um ein Stückchen von dieser Möhre ergattern zu können (= einstellungsdiskrepantes Verhalten), muss es sich scheinbar wohl doch um eine große Köstlichkeit handeln (=Einstellungsänderung zur Dissonanzreduktion). Auch Meerschweinchen sind letztlich manipulierbar.
Auch das Verhalten der Mitbewohner wirkt sich drastisch auf die Schmatzigkeitsbewertung bestimmter Gemüsesorten – aber auch einzelner (ggf. auch winziger!) Gemüsestücke – aus, denn:
Was das andere Schwein hat, ist grundsätzlich viel leckerer!
Egal wie viele Gemüsesorten im Angebot sind und egal, wie viele Stücke von jeder Sorte herumliegen: Das Stück, was der schweinische Mitbewohner gerade mampft, ist mit großem Abstand das leckerste Stück im gesamten Stall – ach was! Im ganzen Land!! Jeder muss augenblicklich das Gemüsestück vom Nebenmann fressen. Und der muss das von der Schweinedame gegenüber haben. Und die muss unbedingt dem Babyschwein diese köstliche, leicht angewelkte Möhre abjagen.
Art und Frischezustand eines Gemüsestücks sind plötzlich völlig nebensächlich, wenn ein anderes Schwein genüsslich an einem anderen Stückchen knabbert. Das muss gut sein. Das muss das Beste sein! Letztlich führt diese Schweineregel dazu, dass niemand in Ruhe sein Gemüsestück fressen kann, sondern dass eine gemeinsame Mahlzeit im ständigen Wegnehmen, Wegjagen, vor-der-Nase-Wegfressen und Suche nach einem mampfenden Kollegen endet. Zum Schluss hat jedes Schwein von jedem Stückchen gefühlte fünfhundert mal abgebissen und bei der ganzen Rennerei ist die Hälfte der aufgenommenen Kalorien bereits wieder verpufft.
Doch alle Regeln der Schweine-Fressgewohnheiten (die im Wesentlichen darin bestehen, möglichst viel und ständig zu fressen) scheinen Kopf zu stehen, wenn es etwas Unbekanntes zu fressen gibt, denn:
Vorsicht bei Unbekanntem!
So unbefangen wie Meerschweinchen auch durch den Tag gehen, so misstrauisch sind sie bei unbekanntem Futter. Auch wenn sie seit Jahren liebevoll und mit größter Sorgfalt von ihrem Zweibein versorgt werden, nehmen sie neue Futtersorten nicht sorglos an. Neue Gemüsesorten, Kräuter, Blätter und Co. werden zunächst immer kritisch beäugt, beschnüffelt und vorsichtig angeknabbert. Egal wie lecker es duftet – es werden zunächst nur winzig kleine Mengen verzehrt. Schließlich könnte das Zweibein plötzlich Mordgedanken hegen (Anlass geben einem die kleinen Fellterroristen ja genügend… ) und versuchen, die kleinen Lieblinge hinterlistig zu vergiften. Vielleicht ist das Zweibein aber auch einfach nur dämlich und kann Giftpflanzen nicht von Öttifutter unterscheiden. Jedenfalls wollen sich die Öttis nicht in Gefahr begeben und sind daher von Grund auf erst mal misstrauisch.
Erst wenn eine gute Stunde nach dem ersten Schnüffel-Kontakt und Hineinbeißen in das große Unbekannte keiner aus der Schweinetruppe auf dem Rücken liegt, wird ein zweiter Anlauf gewagt, bei dem einige Bissen probiert werden. Die Menge ist allerdings gemessen am Ötti-Maßstab immer noch als gering einzuschätzen. Schließlich könnte es sein, dass das Gift erst in größeren Mengen wirkt – oder mit zeitlicher Verzögerung. Nach mehreren Stunden bis hin zu einem Tag werden die Portionen dann nach und nach immer etwas größer. Wenn das neue Futter schmeckt und dann regelmäßig auf dem Speiseplan auftaucht, wird es auch immer selbstverständlicher angenommen werden.
Wird es jedoch nach der Testphase nicht von den Schweinchen gefressen, ist es ihnen entweder nicht gut bekommen, oder es wurde schlichtweg als unschmatzig bewertet. In beiden Fällen ist nach Alternativen zu suchen.
Jedenfalls sollte sich ein treusorgendes Zweibein, das seinen Schweinchen z.B. zum ersten mal mühsam gepflanzte und mit Liebe großgezogene Sonnenblumen anbietet, nicht zu sehr wundern, dass diese Köstlichkeit nicht sofort zu einer großen Fressorgie führt. Und man sollte es den Schweinchen auch nicht übel nehmen, dass sie die große Anstrengung scheinbar gar nicht schätzen oder honorieren, sondern einen argwöhnisch anschauen, als wollte man sie vergiften. Grund genug hätte man ja meistens und das wissen sie wohl auch.
Übrigens, ganz wichtig: Wir raten ausdrücklich davon ab, sich auf dieses Ötti-Misstrauen in Sachen Giftigkeit zu verlassen!! Einige Pflanzen wirken tatsächlich erst in größeren Mengen giftig und könnten daher den Ötti-Test bestehen und dennoch langfristig gesundheitliche Schäden verursachen. Andere Pflanzen sind dagegen so giftig, dass bereits wenige Probe-Bissen zu einem bösen Ende führen können! So gerissen, hinterhältig und egozentrisch Meerschweinchen auch sein können, sollte man ihnen ausschließlich Futter anbieten, bei deren Verträglichkeit und Ungiftigkeit das Zweibein hundertprozentig sicher ist!
Esskultur oder Esskalation?
Liegen manchmal erstaunlich nah beieinander...